Der Ruf aus Tir na nOg
In ferner Vergangenheit, als die Hirsche noch in großer Zahl über die Hügel Irlands streiften und der Wind den Rauch nur weniger Torffeuer durch die Täler trug, herrschte in Tara der Hochkönig des Landes. Er nannte eine Streitmacht sein Eigen, die an Tapferkeit und Kampfeseifer kaum zu übertreffen war. Und kein Geringerer als Fionn Mac Cumhaill war der Anführer dieser Streitmacht. Gemeinsam mit seinen Mannen, genannt die Fianna, durchstreifte er die Lande, verteidigte den verehrten Herrscher gegen jedweden Feind und ging auf die Jagd.
Eines Tages führte diese Jagd die Fianna weit in den Westen bis an die Ufer des Loch Lein in Kerry. Sie verfolgten die Spuren eines Hirsches. Doch statt des Hirsches erblickten sie plötzlich ein prächtig gebautes, schneeweißes Pferd. Auf dessen Rücken saß die schönste Frau, die die Krieger jemals gesehen hatten. Sie trug ein Kleid, so blau wie der Himmel an einem schönen Sommertag und übersät mit silbernen Sternen, und ihr langes, goldenes Haar hing bis auf die Hüften herab.
„Wer bist du?“, fragte Fionn atemlos, als sie nahe herangekommen war, „und wo kommst du her?“
„Ich bin Niamh mit dem goldenen Haar, die Tochter des Königs im Lande Tir na nOg!“, antwortete die junge Frau mit sanfter Stimme.
„Und was, verehrte Niamh mit dem goldenen Haar, führt dich zu uns?“, erkundigte sich Fionn.
„Ich hörte von einem Krieger namens Oisin. Bis in unser Land drangen die Geschichten über seinen Heldenmut und seine Dichtkunst, und ich bin hier, um ihn mit mir nach Tir na nOg zu nehmen!“
„Jener Oisin ist mein Sohn!“, erwiderte Fionn mit stolzgeschwellter Brust. „Und ein heldenhafter Krieger und begabter Poet ist er in der Tat!“
Oisin und Niamh
Aber noch ehe sein Vater zu Ende gesprochen hatte, trat Oisin aus der Reihe der Krieger, die vor Bewunderung wie erstarrt waren. Oisin war nicht minder verzaubert von der strahlenden Schönheit der Elfenprinzessin Niamh. „Sag mir!“, bat er, „was für ein Reich ist Tir na nOg, deine Heimat?“
„Tir na nOg ist das Land der Jugend!“, erklärte Niamh. „Es ist das Reich immerwährenden Glücks. Krankheit, Schmerzen und Tod gibt es nicht in Tir na nOg. Dagegen geht jeder Wunsch, den du äußerst, in Erfüllung, und du bleibst für immer jung. Komm mit mir, und ich werde dir zeigen, dass all dies der Wahrheit entspricht!“
Vollkommen in den Bann geschlagen von dem Lächeln, das Niamhs Worte begleitete, bestieg Oisin hinter ihr das schneeweiße Pferd. Er verabschiedete sich von seinem Vater und den übrigen Fianna, und schon galoppierte das Pferd davon. Dem Schatten einer lichten Wolke gleich bewegte es sich über das Wasser und war schon bald nicht mehr zu sehen. Traurig beobachteten Fionn und seine Krieger, wie Oisins Gestalt am Horizont verschwand. Würde Fionn seinen Sohn und die Krieger ihren Freund jemals wiedersehen?
Oisin in Tir-na-nog
Als Oisin und Niamh in Tir na nOg ankamen, veranstaltete der König zu ihren Ehren ein verschwenderisches Fest. Das ganze Land hieß Oisin herzlich willkommen. Nach dem Fest währte es nicht mehr lange, bis Oisin die schöne Prinzessin heiratete. Nun war Oisins Glück vollkommen: er erforschte das Land, jagte und feierte und vergnügte sich, ohne zu bemerken, wie darüber die Jahre verrannen. Nur abends, wenn er am Feuer von den Heldentaten der Fianna berichtete, verspürte er Heimweh nach Irland. Dann dachte er daran, der alten Heimat und seinem Vater einen Besuch abzustatten. Niamh hielt ihn stets davon ab. Eines Tages jedoch gab sie nach und ließ ihn ziehen.
„Nimm mein weißes Pferd!“, bestimmte sie. „Es wird dich sicher nach Irland und wieder zu mir zurückbringen. Nur eines bedenke: Was auch immer geschieht, du darfst in Irland niemals den Erdboden berühren! Ansonsten wirst du niemals wieder nach Tir na nOg und zu mir zurückkehren…“
Oisins Rückkehr
So schwang sich Oisin freudig auf den Rücken des weißen Pferdes und ritt mit ihm übers Meer nach Irland. Aber die alte Heimat erschien ihm seltsam und fremd. Sein Vater und die übrigen Fianna waren längst tot, die Mauern seines Schlosses verfallen und mit Gras überwachsen. Oisin hatte ja nicht geahnt, dass seit seinem Aufbruch nach Tir na nOg ganze 300 Jahre vergangen waren!
Die Menschen, denen er auf seinem Ritt durchs Land begegnete, hatten nichts mehr mit den Fianna von einst gemein. Sie waren so klein und schwach! Nicht einmal einen Felsbrocken, der ihnen auf dem Feld im Wege lag, konnten sie forttragen! Oisin bückte sich vom Pferd, um ihnen zu helfen. Er hob den Felsen auf und warf ihn weit in die Ferne. Doch dabei verlor er den Halt und stürzte vom Pferd.
In dem Augenblick, da er den Erdboden berührte, verwandelte sich der stolze junge Krieger in einen gebrechlichen Greis und das schneeweiße Pferd galoppierte ohne ihn davon übers Meer. Da erinnerte Oisin sich an Niamhs Weisung, auf gar keinen Fall irischen Boden zu berühren. Zu Tode erschrocken erkannte Oisin: Der Rückweg nach Tir na nOg war ihm für immer verwehrt!
Oisin bei St. Patrick
In tiefstem Kummer sank Oisin auf dem Felsbrocken nieder. Die Menschen aber, die seine plötzliche Verwandlung beobachtet hatten, nahmen sich seiner an. Sie brachten ihn zu ihrem heiligen Mann, der ganz in der Nähe lebte. Oisin berichtete dem Heiligen, was ihm zugestoßen war und fragte schließlich mit zitternder Greisenstimme: „Wo sind Fionn und die Fianna geblieben?“ St. Patricks Nachricht von ihrem Tod vor langer Zeit brach Oisin endgültig das Herz. Er starb nicht lange danach, ohne jemals nach Tir na nOg und zu Niamh zurückzukehren. Was bis heute von ihm blieb, sind seine Berichte über die Heldentaten der Fianna und über das wunderbare Reich der ewigen Jugend. Tir na nog